:::::::::::::: Reinhard Kaisers Elektroarchiv - Verstreute Werke :::::::::::::::
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Der Übersetzer und seine Neugier

Leute, die bemerken, mit was für unterschiedlichen Büchern und Themen es der Übersetzer bei der Ausübung seines Gewerbes zu tun bekommt, fassen ihr Erstaunen gelegentlich in die Worte: Sie haben aber einen interessanten Beruf! Das läßt sich nun wirklich nicht bestreiten. Und manchmal, wenn der Übersetzer vor dem Regal steht, in dem die Bücher versammelt sind, die er im Laufe der Jahre übersetzt hat, wundert er sich selbst darüber, wofür er sich im Laufe dieser Jahre schon alles interessiert hat.

Eine der komischsten Figuren, die der Komiker Gerhard Polt erfunden hat, ist die des »Verantwortungsübernehmers«. Überall, wo Verantwortung anfällt und übernommen werden muß, bei einer öffentlichen Fehlentscheidung, die Millionen kostet, oder beim Bau riskanter Industrieanlagen, ist mit besorgtem Blick und korrektem Aktenköfferchen der Verantwortungsübernehmer zur Stelle, übernimmt die Verantwortung »gern« und entsorgt sie gegen ein vergleichsweise bescheidenes Honorar.

So wie dieser Verantwortungsübernehmer kommt sich der Übersetzer manchmal vor: wie einer, der gegen ein vergleichsweise bescheidenes Honorar gern Interesse entwickelt, ein berufsmäßiger Interesseaufbringer, dessen Aufgabe allerdings auch darin besteht, in Routine nicht zu erstarren, wie es Polts Verantwortungsübernehmer tut.

Der Übersetzer hat es in vergleichsweise kurzen Zyklen mit immmer wieder anderen Büchern und in diesen mit immer wieder neuen Welten zu tun. Seine Fähigkeit, Neugier auf diese Welten, Interesse an ihnen zu entwickeln, wird tagein, tagaus heftig strapaziert. Ohne Schwierigkeiten geht dieses professionelle Neugieraufbringen und Interesseentwickeln nicht vonstatten. Es ist aber eine zentrale, wenngleich vielfach übersehene Voraussetzung dafür, daß das Übersetzen so gelingt, wie es überhaupt gelingen kann.

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Im Hinblick auf das Übersetzen und namentlich in der Frage, was ein Übersetzer können und kennen und wissen muß, welche Voraussetzungen er mitbringen sollte, wenn er sich als Fährmann zwischen den Sprachen und Kulturen betätigt, sind einige grobe Mißverständnisse im Umlauf — auch bei Leuten, die sich in der Welt der Bücher auszukennen glauben. Eines dieser Mißverständnisse besagt, gründliche Kenntnis der fremden Sprache, aus der der Übersetzer übersetzt, sei die eigentliche und elementare Voraussetzung seiner Arbeit, während doch in Wahrheit gründliche Kenntnis der eigenen Sprache und Geschicklichkeit im Umgang mit ihr viel wichtiger und wahrhaft unerläßlich sind. Nicht minder falsch ist die Annahme, der Übersetzer müsse über die Sachgebiete, die Themenkreise, die Welten, um die es in den von ihm zu übersetzenden Texten geht, Bescheid wissen. Mit dem Bescheidwissen verhält es sich ähnlich wie mit den Fremdsprachenkenntnissen. Es ist — so weit es trägt — hilfreich und nützlich. Es erleichtert die Arbeit, erspart manches Nachschlagen und Nachfragen. Aber unerläßliche Voraussetzung für das Übersetzen ist nicht Wissen, sondern Wissenwollen, Neugier.

Wir alle wissen (auch wenn wir es uns und anderen oft nicht eingestehen mögen), daß unser Wissen fast so kurze Beine hat wie die Lügen — ein unbeholfenes, humpelndes Etwas, das uns nicht besonders weit bringt. »Ich weiß zwar auch nichts, genau wie ihr - aber das immerhin weiß ich«, oder kurz und bündig: »Ich weiß, daß ich nichts weiß«. So formulierte es — kein Ignorant, sondern einer, der bis heute als besonders großer Freund der Weisheit gilt, und er tat dies zu einer Zeit, in der das, was man wissen konnte, nach allem, was man weiß, viel weniger umfangreich war als das Wißbare heute. Schon vor zweitausendvierhundert Jahren bezweifelte er, daß Wissen etwas sei, auf das man sich, nachdem man es einmal erworben habe, verlassen könne, ein fester Bestand, ein unverlierbarer, ausbaufähiger Besitz, und entfaltete vor dem Hintergrund seiner Zweifel eine neuartige Kunst des Nachfragens und Wissenwollens.

Sokrates redete mit den Leuten. Er hat keine Bücher hinterlassen. Aber die folgende These hätte ihm vielleicht eingeleuchtet: Wenn man glaubt, über ein Thema alles zu wissen (es ist zwar immer eine Illusion, aber gelegentlich stellt sie sich ja doch ein), wenn man also das Gefühl hat, in bezug auf ein Thema durchaus bewandert und im Bilde zu sein, dann ist der richtige Zeitpunkt, über dieses Thema ein Buch zu schreiben, wahrscheinlich schon verstrichen. Oder anders ausgedrückt: Schreiben ist für den, der es auf sich nimmt, eine ausgezeichnete Gelegenheit, für sich selbst und für andere etwas in Erfahrung zu bringen. Der Schreibende, der sich, auch während er schreibt, noch als Kundschafter versteht, ist keiner, der alles, was anderen zu wissen nottut, schon weiß und nurmehr niederschreibt, sondern selbst einer, der wissen will. Wie den Reisenden treibt ihn die Neugier auf das, was sich »unterwegs« ereignet. Nicht-Wissen, gepaart mit Wissenwollen, kann unter solchen Voraussetzungen ein besserer Ausgangspunkt für das Schreiben sein als vorhandenes, vermeintliches Wissen — nicht nur für das Schreiben von eigenen Texten, auch für das Schreiben von Übersetzungen.

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Das Interesse, das Büchern im Prozeß ihrer Entstehung zuteil wird, bleibt in ihnen erhalten und lebendig, es ist ihr Lebens- und Überlebenselixier - vor allem natürlich das Interesse, welches der Autor, während er konzipiert und komponiert und korrigiert, seinem Erzeugnis angedeihen läßt. Daß der Autor dieses Interesse aufbringt, daß er sich für seinen Gegenstand und seinen Text interessiert, halten wir für eine Selbstverständlichkeit. Zu Unrecht. Es kommt vor - und gar nicht selten -, daß schon der Verfasser sich zum Neugieraufbringen und Interesseentwickeln etwa angesichts eines ihm vorgegebenen Themas nicht aufzuraffen vermag oder daß er im Laufe der Arbeit aus diesem oder jenem Grund gegen die Reize seines selbstgewählten Themas abstumpft.

Doch auch wenn der Autor selbst das gehörige Interesse an seinem Thema entwickelt und in seinem Text niedergelegt hat, genügt das doch keineswegs, dem werdenden Buch jenen einladenden, lockenden Glanz oder Schimmer zu sichern, der ihm bei seinem Erscheinen in der Öffentlichkeit wie ein guter Segen beisteht. Das Interesse, das Vergnügen, die Neugier, die Konzentrationsbereitschaft all derer, die im Prozeß der Veröffentlichung des Werkes nach dem Autor kommen, bleibt ebenfalls im fertigen Buch gegenwärtig und kommt ihm zugute. Wenn aber dieses Interesse nicht vorhanden ist, nicht entsteht, nicht aufgebracht wird, dann fehlt dem werdenden Buch etwas.

Es gibt jene freudlosen, unfrischen Bücher, zu denen sich Verlage aus irgendwelchen Gründen entschließen, ohne daß Spaß oder Interesse dabei sind. Oft ist solchen Werken wenig Glück beschieden. Das Desinteresse, das ihnen im Laufe ihrer Entstehung zugestoßen ist und zugemutet wurde, hat sie mit einem Film von Unansehnlichkeit überzogen und macht ihnen bis in die Buchhandlungen und bis zu ihren potentiellen Lesern das Leben schwer.

Es liegt also nicht in der Macht des Autors allein, dem eigenen Buch ein solches Schicksal zu ersparen. Alle, die an der Entstehung und Verbreitung eines Buches mitwirken — Verleger, Lektoren, Hersteller, Korrektoren, die Leute aus dem Vertrieb und aus der Presseabteilung, die Verlagsvertreter — sie alle können dazu beitragen, daß solches Unheil nicht geschieht. Ihr Anteil am Gelingen mag unterschiedlich groß sein, aber keiner ist zu vernachlässigen oder geringzuschätzen, und besonders groß ist, sofern es sich um ein Buch aus dem Gebiet einer anderen Sprache handelt, der Anteil des Übersetzers.

Er kann den Glanz des Originals, sofern er denn vorhanden ist, nicht nur dadurch stumpf werden lassen, daß er falsch oder schlecht übersetzt. Schaden kann er dem Buch schon zufügen, indem er sich als bloßer Routinier betätigt, indem er sich auf das verläßt, was er weiß und kann, indem er sich als austauschbaren Transformator im Prozeß der Vermittlung und Veröffentlichung von Wissen oder Kunst versteht - kurz, indem er selbst sich so sieht, wie ihn seine Mitwelt meist sieht, Literaturkritiker, Lektoren und andere Leser, Verleger, Zeitungsredakteure und andere Auftraggeber.

Die Verkennung dessen, was der Übersetzer tut, hat häufig zur Folge, daß der Übersetzer selbst sein Tun verkennt und ähnlich gering schätzt wie seine Mitwelt. Er sieht sich vor allem als Knecht, als Diener an fremden Worten, aber nicht als das, was er doch auch ist: Herr seines Textes, Verfasser, Urheber seiner Übersetzung. Er sieht sich nicht als einen, der einen neuen Text schreibt, sondern als einen, der einen vorhandenen Text in einer anderen Sprache abschreibt. Schon das dämpft den Mut, die Inspiration, die Freude am Formulieren und ist vielleicht auch eine der Ursachen für jene herabgestimmte, nivellierte Normalprosa, die wir »Übersetzerdeutsch« nennen - eine Sprache, der man anmerkt, daß sie weniger Glanz hat, als sie haben könnte.

Nicht nur originalen Texten, auch Übersetzungen steht es gut zu Gesicht, wenn sie nicht aus der Haltung des Bescheidwissens, des routinierten sich Verlassens auf das, was man kann, erarbeitet worden sind, sondern aus der Haltung des Wissenwollens, des Ausprobierens, der Lust, Neuland des Wissens, der sprachlichen und literarischen Fertigkeiten zu betreten.

Der Übersetzer, der die eigene Neugier ins Spiel bringt, der sich also für einen Text nicht etwa deshalb entscheidet, weil er das Thema oder den sprachlichen Gestus dieses Textes zu »beherrschen« glaubt, sondern weil er neugierig auf dieses Thema ist oder darauf, wie es ihm mit einem bestimmten Text, einer bestimmten Art von Text, einem bestimmten Ton oder Sprachniveau ergeht, hilft übrigens, wenn die Operation gelingt, nicht nur dem Text - er hilft auch sich selbst.

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Was ist eine leichte, was eine schwere Übersetzung? Wahrscheinlich gibt es keine Frage, in der sich auch erfahrene Übersetzer so leicht verschätzen können wie in dieser, die für die Organisation der eigenen Arbeit ja nicht eben unwichtig ist. Schwer, so sagt man, sind Übersetzungen, bei denen der Übersetzer viel nachschlagen, viel recherchieren, verwickelte Satz- und Gedankenkonstruktionen nachdrechseln muß. Leicht zu übersetzen sind Texte mit kurzen Sätzen aus lauter Wörtern, die keine Rätsel aufgeben. Kinder- und Jugendbücher zum Beispiel sollen angeblich leichter zu übersetzen sein als Bücher für Erwachsene, und leichte Romane leichter als ernste Literatur. Aber oft genug erweisen sich die vermeintlich leichten Texte als durchaus schwer, weil es eben oft nicht leicht, sondern meistens sehr schwierig ist, aus Sprache Leichtigkeit zu erzeugen.

Aber noch viel schwerer als das vermeintlich Leichte und das erkennbar Schwierige ist das gewöhnliche Langweilige oder Triviale oder Altbekannte zu übersetzen. Selbst wenn es sich scheinbar leicht hergibt, zieht es sich doch quälend dahin, und der Übersetzer muß nun nicht nur den leidigen Text herüberbringen, sondern immerzu auch das elende Gefühl niederkämpfen, er habe das alles schon hundertmal gelesen und zehnmal übersetzt. Die Befassung mit solcher Materie kann wirkliche Schwerstarbeit sein. Dagegen ist die Chance nicht gering, daß demjenigen, der sich, der eigenen Neugier folgend, auf einen vermeintlich schweren Text eingelassen hat, weil er etwas wissen will oder weil er sich selbst auf die Probe stellen und sprachliches Neuland betreten will, diese schwierige Arbeit doch vergleichsweise leicht von der Hand geht - zumindest dem Gefühl nach und vielleicht sogar nach der aufgewendeten Zeit.

In den Künsten, auch in den sprachlichen, gibt es zwischen Können und Wollen keine feste Trennlinie. Die Frage nach den eigenen Grenzen: Willst du nicht oder kannst du nicht? läßt sich in der Kunst nicht ein für allemal beantworten. Das Spiel ist nicht abgekartet. Es ist möglich, sich selbst zu überraschen.

Übersetzen kann man nicht können. Das »Können« ist bei der Arbeit zwar gewiß nützlich und so hilfreich wie das Wissen, das man »besitzt«. Aber verlassen kann und darf man sich weder auf dieses noch auf jenes. Mit dem Können und dem Wissen verhält es sich wie mit dem Glück im Märchen: wer sich darauf verläßt, den verläßt es. Zu wichtig sind für das Gelingen des Projekts Übersetzen einige Ingredienzen, die sich durch Routine nicht herbeinötigen lassen und erst recht nicht durch Automation oder Automatismen. Die Besinnung auf diese Ingredienzen, auf Neugier, Inspiration, Beflügelung, läßt den Übersetzer erkennen, daß seine Arbeit riskanter ist, als er selbst und zumal seine Mitwelt vielleicht angenommen haben. Er mag über dieser Erkenntnis erschrecken. Sie könnte ihm aber auch Anlaß und Grundlage zur Mehrung und Festigung seines Selbstbewußtseins sein. Sie verrückt seine Arbeit im Koordinatensystem der Wertigkeiten: weg von der Dienstleistung, hin zur Kunstübung.

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© Reinhard Kaiser 1999. - In: Jahrbuch der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, 1999, S. 682-688. Auch in: Erich Fried Symposium 2001. »All right, what's left«. Hrsg. v. Ursula Seeber, Heinz Lunzer und Walter Hinderer. Zirkular, Sondernummer 58. Wien: Literaturhaus Oktober 2001.