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Rezension zu: Simon Winchester, »Der Mann, der die Wörter liebte. Eine wahre Geschichte«.

Die Leiche im Wörtersee

Der Lexikograph und der Wahnsinnige: Mr. Murray, Dr. Minor und das Oxford English Dictionary

»Ein harmloses Arbeitstier, das sich damit befaßt, der Herkunft von Wörtern nachzuspüren und ihre Bedeutung zu beschreiben« — so definierte Samuel Johnson in seinem berühmten Diktionär der englischen Sprache von 1755 den lexicographer und zugleich sich selbst. Auch auf James Murray (rechts) trifft seine Definition zu, der 123 Jahre nach Johnson das Projekt eines umfassenden »Neuen englischen Wörterbuchs« aus zwanzigjähriger Stagnation auf den langen Weg seiner Vollendung brachte.

Murray hatte nie eine höhere Schule oder eine Universität besucht. Alles, was ihn zum Lexikographen befähigte, brachte er sich selbst bei, versuchte im Knabenalter herauszufinden, ob die Kühe in seinem schottischen Heimatort auch auf lateinische Kommandos hörten, und erwarb im Laufe der Zeit gründliche Vertrautheit mit mehr als zwanzig Sprachen. Murray, das Arbeitstier, scheute nicht, als ihm die Londoner Philological Society 1878 die Leitung der Arbeiten am großen Wörterbuch, dem späteren Oxford English Dictionary, antrug und ihn damit zum Herrn über Millionen von Zetteln machte.

Diese Zettel hatten sich während der voraufgegangenen zwei Jahrzehnte angesammelt — seit man den Beschluß gefaßt hatte, nicht nur alle Bedeutungen aller Wörter und Wendungen der englischen Sprache zu inventarisieren, sondern auch die Entwicklungsgeschichte dieser Bedeutungen mittels datierter Zitate aus der Literatur zu belegen. Schon Dr. Johnson hatte dieses strapaziöse Verfahren angewendet, das bis heute in Gebrauch ist. In vier Quartbänden mit insgesamt 7000 Seiten sollte das neue Wörterbuch binnen zehn Jahren erscheinen. Am Ende wurden es mehr als 15000 Seiten, und siebzig Jahre vergingen, bis der letzte von zwölf Bänden herauskam. Niemand konnte damals abschätzen, was sich einer aufhalst, der es mit einer ganzen Sprache aufnimmt. Immerhin erkannte man, daß es nötig sein würde, die Arbeitslast auf viele Schultern zu verteilen. Es erging ein Aufruf an die Leser in England und der ganzen englischsprachigen Welt zur freiwilligen Mitarbeit beim Sammeln charakteristischer Belegstellen. Die Redaktion ließ ein Regal mit Fächern für die sechzig- oder hunderttausend Einsendungen bauen, die sie erwartete, und ging dann im Zustrom von sechs Millionen Zetteln unter. Als Murray die Arbeit übernahm, befanden sie sich bereits im Stadium fortgeschrittener Verrottung.

Unverzagt erneuerte der neue Herausgeber den Aufruf zur Beteiligung am Wörterbuch — und eines seiner Faltblätter kam um das Jahr 1880 auch einem gewissen William Chester Minor unter die Augen, der bald zu Murrays produktivstem Zitatlieferanten wurde. Auf ihn traf Johnsons Definition allerdings nicht zu. Er war kein harmloses Arbeitstier, sondern ein Mörder, und die immer dicker werdenden Umschläge voller Zettel mit Zitaten kamen aus einer Straf- und Irrenanstalt in Berkshire. Man sah es der Absenderangabe nicht an: »Dr. W.C. Minor, Broadmoor, Crowthorne, Berks.«

Auch ohne sex and crime wäre die Geschichte der Entstehung des Oxford English Dictionary schon spannend und seltsam genug. Doch der Stoff bietet sogar jene Ingredienzen, und der britische Journalist Simon Winchester hat die Chance ergriffen und einen geistesgeschichtlichen Thriller daraus gemacht - nicht indem er hinzuerfand, sondern indem er in Archiven diesseits und jenseits des Atlantik und bei den fernen Nachfahren der Protagonisten Material ausfindig machte, das die in ihren Grundzügen zumindest in England nicht unbekannte Episode ergänzte und anschaulicher machte.

Doktor Minor entstammte einer reichen amerikanischen Familie. Er kam 1834 in Ceylon zur Welt, wo sich seine Eltern als Missionare betätigten. Mit dreizehn Jahren, so erklärte er später seinen Ärzten, hätten die ceylonesischen Mädchen am Strand von Trinconmalee zum erstenmal »schlüpfrige Gedanken« in ihm geweckt. Aber als er vierzehn war, versuchte sein Vater ihn von diesen Gedanken abzubringen und schickte ihn nach Amerika. In Yale studierte er Medizin und meldete sich gleich nach der Promotion 1863 zum Militär und in den amerikanischen Bürgerkrieg. Manches spricht dafür, daß die Erlebnisse in diesem Krieg den angehenden Arzt aus der Bahn geworfen haben — das Zeltlazarett voller Leiber, die mit den modernsten Waffen verstümmelt worden waren und denen er mit den primitiven Mitteln seiner Medizin nicht helfen konnte. Und einmal bekam er den Befehl, einem Iren, der nach der Fahnenflucht wieder eingefangen worden war, ein »D« wie Deserteuer in die Backe zu brennen.

Seitdem fühlte sich Dr. Minor von Unholden verfolgt, vor allem von Iren. In der Lower East Side von New York, wo er nach dem Krieg Nacht für Nacht die Huren besuchte, entkam er ihnen nicht. Und auch in London ließen sie nicht locker, wo er sich 1871 im verrufenen Lambeth ein Zimmer nahm, nachdem man ihn als »dienstunfähig aufgrund der Ausübung seiner Pflichten« aus der amerikanischen Armee entlassen hatte. Nachts kamen sie zwischen den Ritzen der Fußbodendielen hervor, peinigten ihn, wollten ihn vergiften oder zu unzüchtigen Handlungen zwingen. Mit allen Mitteln mußten sie in die Flucht geschlagen werden, und bei einer dieser Verfolgungsjagden, die aus dem Zimmer bis hinaus auf die offene Straße führte, erschoß Dr. Minor eines Nachts im Februar 1872 einen Mann, der zufällig des Weges kam. Das Gericht erkannte auf nicht schuldig wegen Geisteskrankheit. Es ließ den Täter, »bis Ihre Majestät anders belieben«, in die Anstalt Broadmoor sperren und verschaffte dem Oxford English Dictionary auf diese Weise einen seiner nützlichsten Mitarbeiter.

Dr. Minor hatte Geld und genoß in Broadmoor gewisse Privilegien. Er konnte über zwei Zellen verfügen und lebte dort inmitten einer wachsenden Zahl alter, rarer, wertvoller Bücher, die er sich von Londoner Buchhandlungen schicken ließ. Mit einer dieser Sendungen erreichte ihn auch der Aufruf von James Murray.

Zwanzig Jahre lang lieferte Dr. Minor mehr als zehntausend verwertbare Wortbelege aus der Literatur — nicht wahllos und quer durchs Alphabet, wie andere Leser dies taten, sondern gezielt. Er hatte sein Material zum Erstaunen der Redakteure in Wortlisten zu den verschiedenen Büchern, die er tagsüber durchging, so geordnet, daß er auf spezielle Anfragen mit einschlägigem Material reagieren konnte. Aber in jeder Nacht krochen rachsüchtige Iren, lüsterne Ceylonesinnen und andere Gespenster zwischen den Dielenritzen hervor und ließen nicht von ihm ab.

Jahrelang hielt James Murray seinen nur postalisch präsenten Zitatlieferanten für einen literaturbesessenen Landarzt. Dann erfuhr er zufällig, was es mit Broadmoor und Dr. Minor in Wirklichkeit auf sich hatte. Er besuchte ihn in seiner Anstalt und stand plötzlich einem Mann gegenüber, der äußerlich fast sein Spiegelbild war: die gleiche Statur, die gleichen tiefliegenden Augen, der gleiche wallende Bart.

Simon Winchester hat eine jener wahren Geschichten gefunden und mit großem Effekt in Szene gesetzt, die in der Konstellation ihrer Figuren und der Verkettung von Vor- und Zufällen so unwahrscheinlich sind, daß ein Romanschreiber sie seinen Lesern nicht ohne Zögern vorsetzen würde, wohingegen das sogenannte »Leben« sie bedenkenlos geschehen läßt.

Simon Winchester, Der Mann, der die Wörter liebte. Eine wahre Geschichte. Aus dem Englischen von Harald Stadler, München: Knaus 1998. 284 Seiten, geb., mit 2 Abb. DM 36,90. ISBN 3-8135-0093-4.

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Zuerst erschienen in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3. November 1998 (c) Reinhard Kaiser