::::::::::::::::::::::::  Reinhard Kaisers Elektroarchiv ::::::::::::::::::::::

          Der kalte Sommer des Doktor Polidori 
           
          Roman.
          298 Seiten., Leinen.
          Frankfurt: Frankfurter Verlagsanstalt 1991.
          Vergriffen
           


          Inhalt:  Der Auftrag / Sitzordnung / Der Doktor im Zwielicht / Spitze Schreie / Der Regenschirm / Vom Gewicht des Lasters / Genever, Geneviève, Genève / Waterloo im Jahr danach / Die Panne / Von der Geduld des Papiers / Tote und Scheintote / Die Stadt der Elftausend Jungfrauen / Ein Herr, der wenig Worte macht / Der Ruhm nicht wahr? / Rheinaufwärts / Das Meldebuch / Kopieren / Eine grauenhaft unvollkommene Angelegenheit / Wer die Kunst hat, kann sich alles erlauben / Am tiefsten Punkt / Die Bedrängnis / Heraus mit der Sprache / Narr ohne Hof / Der Schatten.
           
          "Sind Briten hier? Sie reisen sonst so viel,
          Schlachtfeldern nachzuspüren, Wasserfällen,
          Gestürzten Mauern, klassisch dumpfen Stellen;
          Das wäre hier für sie ein würdig Ziel."
          Mephistopheles
          Klassische Walpurgisnacht, Faust II 

           

          Vom Gewicht des Lasters

          Als Polidori aus der Entfernung auf einer blauen Markise die Aufschrift »Librairie« entzifferte, fiel ihm ein Vorsatz ein, den er noch in England gefaßt hatte: auf dieser Reise seine Bibliothek durch das eine oder andere Stück zu ergänzen. Allerdings nur in bescheidenem Umfang und nach sorgfältiger Auswahl, denn allzu leicht wurden Bücher zur Beschwernis und einer empfindlichen Belastung für das Gepäck. Aber Bücher von der Art, wie Polidori sie sammelte, waren auf dem Festland nun einmal viel leichter erhältlich und in größerer Zahl vorrätig als auf den Britischen Inseln. Das wußte in England jeder. Und während er die Auslagen im Kasten vor der Ladentür und in dem kleinen Schaufenster in Augenschein nahm, kam es Polidori so vor, als habe er, seit er seinem Zimmer im Gasthof entflohen war, kein anderes Ziel gehabt als diese Buchhandlung. Er schüttelte die Nässe so gut es ging von seinem Regenschirm ab, legte ihn zusammen und trat ein.

          Dunkle Buchrücken bis unter die hohe Decke. Ein rechteckiger Büchertisch gegenüber dem Eingang. Rechts drei Stühle im Halbkreis um einen runden Tisch. Darauf, aus einer Schicht Zeitungen sich erhebend, ein Kerzenhalter aus Messing. Auf der anderen Seite des Tisches eine mit Leder bezogene Bank, deren Rückenlehne an die hölzerne Verblendung des kleinen Schaufensters stieß. Die hintere Wand des Ladens wurde von zwei wuchtigen Regalen gebildet, die, versetzt gegeneinander, von beiden Seiten in den Raum vorstießen, das linke etwas weiter als das rechte. Sie waren zugleich Vorhang und Kulisse für den Auftritt des Buchhändlers, der nun in der Öffnung zwischen ihnen erschien. Er musterte Polidori, als sei noch zu entscheiden, ob dem Kunden der fernere Zutritt zum Sortiment überhaupt gestattet werden solle.

          »Monsieur, was kann ich für Sie tun?«

          Polidori war erleichtert, daß der Buchhändler Französisch sprach.

          »Ich suche Bücher«, begann er.

          Der Buchhändler schob die gestreckten Finger beider Hände zusammen.

          »Was für Bücher, wenn ich fragen darf?«

          Polidori kümmerte sich nicht um das Fingerscharnier, das der Buchhändler mit gezwungenem Lächeln vor seiner Weste auf- und zuschnappen ließ. Polidori konzentrierte sich darauf, von seiner Stimme jegliche Verlegenheit fernzuhalten.

          »Ich sammle lizenziöse Schriften.«

          »Aha. Und in welcher Sprache?«

          »Lizenziöse Schriften in allen Sprachen. In bekannten und entlegenen Zungen.«

          »Verstehe ich recht? Auch in solchen Sprachen, die Sie selbst gar nicht sprechen?«

          »Ja, gern, ich meine: durchaus.«

          Endlich sah ihn der Buchhändler aufmerksam an. Er überlegte einen Augenblick.

          »Etwas Russisches habe ich da, sogar in kyrillischer Schrift. Sehr umfangreich, allerdings nicht ganz billig. Wäre das etwas für Sie, oder sprechen Sie Russisch?«

          »Nein, das nicht. Aber im Augenblick bin ich auf der Suche nach einem bestimmten französischen Buch: >Die Wundernacht oder das Nec plus ultra der Lust<. Es soll von Denon sein. Die Fortsetzung von >Eine einzige Nacht<.«

          Im Hintergrund ertönte ein »Oh!«, gefolgt von einem Stuhlrücken.

          Der Buchhändler sagte: »Ich glaube, ich weiß, wo -- einen Moment bitte«, und wandte sich einem der Regale zu.

          Polidori tat zwei Schritte vorwärts und spähte durch die Öffnung zwischen den Regalwänden, aus der eben der Buchhändler getreten war, in den hinteren Raum. Ein junges Mädchen hatte sich unter ein Schreibpult gebückt. Sie schien Polidori schon zu bemerken, während sie noch am Boden herumtastete. Doch erst nachdem sie sich wieder auf ihren hohen Hocker hinter dem Pult geschoben hatte, drehte sie den Kopf nach ihm.

          Jetzt warf sie ihm ihren Blick zu.

          Polidori wußte nicht, warum -- aber sofort spürte er ein Bedauern, ein brennendes Gefühl der Reue darüber, daß er nach jenem Buch verlangt hatte. Er versuchte den Blick des Mädchens zu erwidern, ohne rechte Hoffnung, ihn ergründen zu können. Da wurden ihre ernsten, aufmerksamen Augen ein wenig glasig.

          »Monsieur, ich glaube, ich habe hier, was Sie suchen«, ertönte die Stimme des Buchhändlers neben ihm.

          Polidori war sich nicht mehr ganz sicher, was er eigentlich suchte. Der Buchhändler hielt ihm einen schmalen, wässrigblauen Band entgegen. Weniger begierig, als er noch vor einem Augenblick gewesen wäre, nahm Polidori ihn in die Hand und schlug die Titelseite auf. Kein Verfassername und das wahrscheinlich fiktive Datum »Paris 1777«. Es war offenbar das Buch, das er suchte. Eine fremde Hand hatte die Zahl »1801« und ein Fragezeichen hinzugesetzt.

          Polidori blickte wieder auf und sah nach der Öffnung zwischen den Regalwänden. Aber da er mit dem Buch ein paar Schritte näher an das Schaufenster getreten war, durch das graues Licht in den Laden fiel, konnte er das Pult nicht mehr sehen, sondern nur einen halbhohen schwarzen Schrank voller Bücher und Papiere. Auf dem Schrank stand ein leeres Glas, darin ein silberner Löffel. Die drei Schritte, die notwendig gewesen wären, um das Pult und das Mädchen auf dem Hocker noch einmal ins Blickfeld zu bekommen, konnte Polidori nicht tun. Der Buchhändler stand ihm im Weg. Polidori klappte das Buch zu, knöpfte seinen Mantel auf und schob es in eine Außentasche seines Jacketts.

          »Was bin ich Ihnen schuldig, Monsieur?«

          Der Buchhändler schien von Polidoris schnellem Entschluß überrascht. Er suchte noch nach dem Preis, den sein Kunde ohne Murren akzeptieren würde.

          »Fünfundvierzig Francs, Monsieur. In Anbetracht der Seltenheit dieses Werkes muß ich das verlangen.«

          Für fünfundvierzig Francs bekam man hierzulande auch sechs Flaschen guten Rheinwein. Polidori bezahlte und ging rasch hinaus.

          Einen Fuß vor den anderen setzen, manchmal half das. Es gab Blicke, die die fernste Ferne zwischen Menschen einfach übersprangen. Im Gehen tastete Polidori durch das Tuch seines Mantels nach dem Buch. Steif schob es sich in der Tasche hin und her, ein totes Andenken an etwas, das aufgeblitzt, aber nicht Möglichkeit geworden war und erst recht nicht Gelegenheit. Schon der zweite Blick in den hinteren Raum des Ladens hatte sich nicht ergeben wollen.

          Polidori sah jetzt häufiger zurück in die Richtung, aus der er gekommen war. Vergebens. Sogar den wenigen in faltenreiche Tücher gehüllten Frauengestalten, die ihm entgegenkamen, sah er aufmerksam ins Gesicht. Polidori verlangsamte seine Schritte. Er wollte seinen Vorsprung nicht uneinholbar groß werden lassen. Wem ein solcher Blick zuteil geworden ist, der rechnet auch mit anderen unwahrscheinlichen Zufällen. Aber als Polidori dann stehenblieb, um noch einmal zurückzublicken, da war es der Buchhändler selbst, den er auf sich zuhasten sah -- im Regenmantel und mit Zylinder, jedoch ohne Schirm. Polidori sah ihm erwartungsvoll entgegen. Doch der Buchhändler erkannte ihn erst, als er schon fast vorüber war.

          »Ah, Monsieur, einen schönen Tag wünsche ich noch.«

          Er tippte an den Rand seines Zylinders und stürmte weiter durch den Regen. Polidori sah ihm einen Moment lang nach. Dann kehrte er um.

          Der Rückweg war kurz, und die Ladentür wirkte jetzt vertraut. Das Mädchen stand über den Büchertisch gebeugt und rückte die ausgelegten Bände zurecht. Als sie Polidori aus den Augenwinkeln erkannte, hob sie den Kopf wiederum nicht gleich, sondern legte das Buch, das sie gerade in der Hand hielt, bedächtig an seinen Platz zurück. Dann richtete sie sich auf. Um Schultern und Hals hatte sie ein schwarzes Wolltuch geschlungen, aber die Ärmel ihrer Bluse waren hochgeschoben. Sie sah Polidori an, ernst und unerschrocken. Polidori fielen alle Bewegungen plötzlich ganz leicht, so als würde er dieses Mädchen schon seit einer Ewigkeit kennen. Er trat auf die andere Seite des Büchertischs und blieb ihr gegenüber stehen.

          »Dieser Regen hört nicht auf«, begann er.

          »Wirklich zu dumm. Aber für das Geschäft ist er gar nicht schlecht. Nässe bringt Kunden, sagt mein Vater immer. Jedenfalls bleiben sie länger.«

          »Oder sie kommen zweimal am Tag.«

          »Ganz recht, Monsieur. Und was kann ich diesmal für Sie tun?«

          »Hm, also ich weiß nicht. Ich suche nach gewissen Büchern ... Aber vielleicht sollte ich lieber mit dem Herrn, der mir eben ... Ihr Vater, nicht wahr?«

          Sie nickte.

          »Vielleicht sollte ich lieber mit Ihrem Herrn Vater sprechen. Mir scheint ... Ist er denn nicht da?«

          Polidori sah hinüber zu der Öffnung zwischen den hinteren Regalwänden.

          »Er ist ausgegangen. Aber ich kenne mich hier fast genauso gut aus wie er.«

          »Vielleicht sollte ich trotzdem auf ihn warten. Mein Anliegen ist ... etwas delikat.«

          »Wie bitte?« Sie machte eine kleine Pause und sagte dann: »Ach so. Aber mein Vater wird nicht so bald zurückkommen. Sagen Sie mir ruhig, was Sie suchen.«

          »Gut denn ... ich bin also auf der Suche nach lizenziösen Büchern, wenn Sie wissen, was ich damit meine.«

          »Ich ahne es«, sagte sie.

          »Kennen Sie sich denn in diesem Genre aus?«

          »Ein wenig.«

          »Ach wirklich? Und, verzeihen Sie, lesen Sie dergleichen auch? Läßt Ihr Herr Vater das zu?«

          »Warum fragen Sie, Monsieur?«

          »Nun, ich hatte, wenn Sie mir diese Bemerkung gestatten, vorhin tatsächlich den Eindruck, daß Sie in diesen Dingen ... ich meine, in dieser Literatur nicht unbewandert sind. Sie warfen mir einen ... wie soll ich sagen? ... einen so klugen, wissenden Blick zu, oder sollte ich mich getäuscht haben?«

          »Also, ich weiß nicht ... Was denn für einen Blick?«

          »Gleich anfangs, als ich eingetreten war und Ihren Vater nach dem Buch fragte. Sie saßen dort hinten an dem Pult, und als ich den Titel nannte, fiel Ihnen etwas auf den Boden.«

          »Ja, der Federhalter.«

          »Sie suchten nach ihm, und als Sie auf Ihrem hohen Schemel wieder Platz genommen hatten, sahen Sie mich an. Ein kurzer Blick, aber kundig und sehr ernst ... nun, wie soll ich mich ausdrücken ... ich meine, so ernst, wie Sie mich jetzt ansehen.«

          Sie drehte den Kopf zur Seite und fuhr sich mit der Hand über das Haar bis in den Nacken hinter das schwarze Wolltuch. In ihren Mundwinkeln regte sich etwas, aber es wurde kein Lächeln.

          »Ich glaubte«, fuhr Polidori fort, »oder sagen wir, mir kam der Gedanke ... nein, verzeihen Sie, es war noch anders, ich wußte in diesem Augenblick, daß Sie erst kürzlich in eben diesem Buch, nach dem ich mich erkundigte, gelesen hatten. Vielleicht am Vormittag oder gestern abend, nicht wahr? Sie können doch gewiß hin und wieder Bücher aus dem Geschäft mit auf Ihr Zimmer nehmen?«

          »Ja, natürlich. Warum denn nicht?«

          Sie zögerte, versuchte zu lächeln, gab den Versuch wieder auf, schluckte, sah ihm ins Gesicht, dann wieder an ihm vorbei und ließ die Augen schweifen, bis sie an einer bestimmten Stelle in dem Regal über ihm zur Ruhe kamen.

          In diesem Augenblick öffnete sich die Ladentür, und ein alter Herr trat ein. In seinem triefenden Gewand blieb er am Eingang stehen und wartete. Die Tochter des Buchhändlers ging zu ihm hinüber, lauschte einer Frage, wiegte den Kopf hin und her, verschwand in der Öffnung der hinteren Wand und kam nach wenigen Augenblicken mit ausgebreiteten Armen und kopfschüttelnd zurück, lauschte einer zweiten Frage des enttäuscht dreinblickenden alten Mannes, nickte zur Antwort sehr heftig mit dem Kopf und nickte auch noch, wenngleich weniger heftig, als er sich mit einem nicht enden wollenden Händeschütteln von ihr verabschiedete. Polidori, der sich von seinem eiligen Rückweg auf einmal unangenehm erhitzt fühlte, hatte unterdessen seinen Mantel ausgezogen und auf den Büchertisch gelegt. Er hatte das wässrigblaue Pappbändchen aus seiner Rocktasche gezogen. Es war wieder sehr lebendig geworden. Polidori lehnte an der hinteren Bücherwand und blätterte darin. Von der Ladentür kam sie auf ihn zu. Sie sah das geöffnete Buch in seiner Hand und blieb zwei Schritte vor ihm stehen.

          »Soll ich Ihnen etwas sagen, Monsieur? Es stimmt, ich hatte tatsächlich in diesem Buch gelesen, vormittags. Ich habe immer vormittags darin gelesen, schon seit ein paar Tagen. Ich war fast fertig. Jetzt haben Sie es mir entführt.«

          »Wollen Sie es zurückhaben? Soll ich es Ihnen schenken?«

          Er streckte ihr das Buch entgegen.

          »So meinte ich das nicht. Es gibt schließlich auch andere Bücher. Nein, an Lektüre fehlt es mir hier nicht.«

          »Was wollen Sie damit sagen?« fragte Polidori und strich mit der flachen Hand über das Buchstabenrelief der aufgeschlagenen Seite. »An welche anderen Bücher denken Sie?«

          »Nun ja, zum Beispiel da oben --«, sie machte einen Schritt auf ihn zu, stellte sich auf die Zehenspitzen und griff über seine Schulter hinweg ins Regal. Ein herber Duft erinnerte Polidori -- er wußte nicht woran.

          »Hier.«

          Polidori steckte sein eigenes Buch wieder ein und nahm das neue in die Hand. Es hatte einen schmutzigbraunen Einband, dessen Papier sich anfühlte wie glatte Haut, nur kühler. Behutsam schlug Polidori das Buch auf und las halblaut: »>Des Grafen Besenval heimliche Erinnerungen< -- lesen Sie das als nächstes?«

          »Vielleicht.«

          Als sollten sie ein unbedachtes Wort in den Mund zurückschieben, fuhren drei Finger der linken Hand an ihre Lippen. Sie lächelte noch immer nicht. Doch auf einmal sah sie Polidori wieder vollkommen unerschrocken an. Die Finger glitten  von ihren Lippen ab und blieben vor dem Kinn liegen.

          »Ich habe schon angefangen«, sagte sie und dann nach einer kurzen Pause: »Wissen Sie übrigens, was die Marschallin von Luxembourg über dieses Buch gesagt hat? Sie hat gesagt: Man kann es nur mit einer Hand lesen.«

          Polidori begriff nicht gleich, und als er begriffen hatte, kletterte eine Taubheit in seine Fingerspitzen. Einen Augenblick lang kreiste etwas wie wild in seinem Schädel. Dieses »Übrigens« hatte sie ihrer Antwort ganz ungefragt hinzugefügt. Aber indem sie es tat, lud sie ihn schamlos ein, eine schamlose Frage zu stellen, eine Frage, die nicht der Marschallin galt, sondern ihr selbst. Nur im Ton unschuldigster, wenngleich gespielter Ahnungslosigkeit ließ sich diese Frage stellen. Polidori wollte jetzt keinesfalls zögern.

          »Und was ist mit Ihrer anderen Hand?« fragte er.

          »Die liegt im Nacken.«

          Ein schallendes Lachen brach aus ihr hervor. »Was dachten Sie denn?« Sie wußte gar nicht, wohin mit ihrer Lustigkeit. »Nein, wirklich, im Ernst. Wenn ich lese, lege ich die Hand immer in den Nacken. So, sehen Sie? Eine Angewohnheit, manchmal wird mir der Arm ganz steif davon.«

          Polidori erkannte, daß sie ihn auf glattes Eis gelockt hatte. Er war ihr gefolgt. Er hatte sich narren lassen. Aber eingebrochen war er nicht. Es schien ihm, als könnte er sich, einige Umsicht vorausgesetzt, darauf bewegen, vielleicht sogar mit einem verhaltenen Schwung. Im übrigen hatte sie den festen Boden schon vor ihm verlassen.

          »Dann ist es ja gut«, sagte er, »ich dachte schon, Ihre andere Hand läge da, wo sie auf den Stichen von lesenden Frauen meistens zu liegen pflegt.«

          Sie legte den Zeigefinger auf die Lippen und schüttelte den Kopf.

          »Sie haben recht«, sagte Polidori, »das ist kein Thema -- für uns. Aber wollen Sie mir eine andere Frage beantworten? Was bedeutet Ihnen solche Lektüre? Warum lesen Sie ausschweifende Bücher?«

          Während sie sich die Antwort zurechtlegte, trat wieder jene vollkommene Unerschrockenheit in ihre Züge.

          »Der Gedanke war der«, antwortete sie: »Im richtigen Augenblick die richtigen Worte zu finden.«

          »Und ist jetzt der richtige Augenblick?«

          »Ich weiß nicht.«

          Polidori trat einen Schritt auf sie zu und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Er ließ seine Finger über die groben Maschen des Wolltuchs, über das kühle Leinen der Bluse und die feinbehaarte Haut ihres Unterarms gleiten und ergriff ihre Hand. Er drückte diese Hand. Er trat nah an sie heran und spitzte die Lippen. Da wandte sie den Kopf zur Seite. Vor Polidori zeichnete sich plötzlich die klare Linie des Halsmuskels ab. Von einem verborgenen Punkt zwischen ihren Schlüsselbeinen lief sie sehr gerade nach oben und verlor sich hinter dem Ohr. Mit beiden Händen schob er den Wollumhang über ihre Schultern nach hinten, bis er vollends unter den Tisch hinter ihr glitt.

          »Dieser Nacken«, sagte Polidori und wollte sich in die Beuge zwischen ihrem Hals und der Schulter vertiefen, die der Kragen der Bluse freiließ. Doch sie glitt zur Seite und machte sich von ihm los.

          »Warten Sie.«

          Mit ein paar Schritten war sie an der Ladentür und hängte ein Pappschild hinter die Scheibe, das sie auf dem Weg durch den Laden aus einem Regal genommen hatte. Sie drehte den Schlüssel um und steckte ihn ein.

          »So«, sagte sie, als sie wieder auf Polidori zukam. Sie ergriff seinen Arm und zog ihn in den hinteren Raum. Gegenüber dem Durchgang stand das schwarze Regal mit dem leeren Glas. Neben dem Pult, an dem sie vorhin gesessen hatte, befand sich ein kleines Fenster. Auf der Fensterbank standen mit Wasser gefüllte Schalen und Vasen, darin unregelmäßig verzweigte, knorrige Pflanzenstengel.

          »Das ist meine Geranienzucht.«

          Draußen vor dem Fenster lag im trüb gewordenen Nachmittagslicht ein kleiner Garten. Es regnete nicht mehr.

          Sie hatte sich über das Pult gebeugt und betrachtete ihre Vasen. Polidori stand hinter ihr.

          »Die Blätter sehen wie kleine Schirme aus«, sagte er. »Nicht ganz gerundet. Zweidrittelschirme.«

          »Die Wurzeln kommen jetzt langsam. In drei Wochen kann ich sie auspflanzen.«

          Sie wandte sich zu ihm um und stand ganz ruhig. In drei Wochen wollte Byron am Genfer See sein. Ein Schwindelgefühl ergriff Polidori. Es wuchs aus seinen leeren Händen hervor. Diese Hände mußten jetzt sofort nach etwas greifen, einer Tischkante, einer Stuhllehne, einem Buch. Polidori machte einen Schritt auf sie zu. Er packte sie bei den Schultern und ließ nicht wieder los. Daß sie kleiner war als er, hatte er bisher gar nicht bemerkt. Über ihre Schulter hinweg sah er in dem Garten hinter dem Fenster einen Star, der eifrig auf die Kante eines Beetes losmarschierte. Sie lehnte sich an ihn. Polidori schloß die Augen und versuchte, die Stellen zu erahnen, wo ihre Brüste seinen Körper berührten. Es gelang ihm nicht.

          »Wann kommt Ihr Vater zurück?«

          »Noch lange nicht. Am letzten Freitagnachmittag im Monat trifft er sich in der Stadt immer mit Kollegen.«

          Polidori ließ seine Hand von ihrer Schulter über die Bluse herabgleiten und versuchte ihre Brustspitzen zu ertasten. Er traf auch auf etwas Festes, konnte aber nicht erfühlen, ob es die Brust oder ihr Mieder war. Dann hielt er einfach still, genau wie sie.

          Irgendwann glaubte Polidori, zu fallen, und verlor nun tatsächlich sein Gleichgewicht. Er taumelte nach hinten und stieß dabei an das halbhohe schwarze Regal. Das leere Glas mit dem Löffel darin kippte um, rollte eine kurze Strecke auf dem Brett entlang und stürzte ab.

          »Zu dumm von mir«, murmelte Polidori. Er ging in die Hocke, um die zerborstenen Stücke und Splitter einzusammeln. »Ich bitte um Verzeihung.«

          »Ach, laß sie liegen. Scherben bringen Glück«, sagte das Mädchen. Sie hatte sich nach hinten gelehnt und die Ellenbogen auf ihr Pult gestützt.

          »Sie sind sehr freundlich«, sagte Polidori und erhob sich. Er legte den silbernen Löffel, den er in der Hand hielt, auf das Regal zurück und trat wieder auf sie zu. Er schob die Hände unter ihre Arme und ließ sie an den Seiten hinabwandern, bis zu den Hüften. Später zog er mit den Zeigefingern beider Hände die Umrisse ihres Mundes nach und näherte seine Lippen den ihren. Auch diesmal bog sie den Kopf zur Seite, und wieder trat ihr Halsmuskel hervor. Auf ihm ließ Polidori seinen Daumen abwärtsgleiten, bis hinter die Kante des Ausschnitts. An dem Verschluß, auf den er hier traf, nestelte er ratlos herum. Sie kam ihm mit einem raschen Griff zu Hilfe. Polidori schob seine Linke in ihre Bluse. Unter einem dünnen Wollhemd konnte er ihre Brust ertasten.

          Aber je länger sie ihm ihren Mund vorenthielt, während sie doch den Wanderungen seiner Hände mit dem ganzen Körper folgte, desto verworfener erschien Polidori alles, was sie taten. Als er seinen Mund in die Beuge ihres Halses heftete, war es wie ein Versuch, seine Lippen zu bergen.

          »Nicht, du«, flüsterte sie. »Man sieht sonst die Flecken.«

          Polidori hob den Kopf.

          »Wieso? Was für Flecken?« fragte er, über ihre Schulter hinweg nach dem Fenster sehend. Der Star hob gerade steil vom Boden ab und verschwand dann im Gleitflug hinter einer Mauer.

          »Ich habe es selbst ausprobiert, am Handgelenk. Und da ist die Haut noch weniger empfindlich als hier oben.«

          Nach und nach zogen und schoben und drängten sie jetzt die Hindernisse beiseite, die die Kleidung der nächsten Nähe in den Weg legte -- Laschen, Bänder, Knöpfe, Haken, Bordüren, Stoffkanten, Fältelungen. Und schließlich gelangte Polidori auf seinen Wanderungen hinter dem letzten Saum an den Rand einer bestürzenden Nässe.

          Sie hatte die Augen geschlossen. Ihr Mund schien zu lächeln. Hörbar sog sie die Luft durch die Nase ein. Kein einziges geeignetes Möbelstück in diesem hinteren Raum. Vorne allerdings stand die mit Leder bezogene Bank.

          »Einen Augenblick. Ich bin gleich wieder da.«

          Polidori löste sich vorsichtig aus der Umarmung, schob seine Kleidung ein wenig zurecht und trat durch die Öffnung zwischen den Regalen in den vorderen Raum, um die Bank in Augenschein zu nehmen. Selbst wer auf ihr saß, konnte von der Straße durch das Schaufenster nicht gesehen werden. Die Holzblende, die den Schaufensterraum nach hinten begrenzte, war hoch genug. Mit ein paar raschen Schritten war Polidori bei der Bank. Prüfend strich er über das Lederpolster und drückte daran herum. Weich war es nicht.

          Kaum hatte Polidori das Scharren im Eingang wahrgenommen, da öffnete sich die Ladentür fast lautlos. Eine Stimme schimpfte vor sich hin.

          »...da soll doch!«

          Polidori kannte diese Stimme. Er erstarrte. Der Buchhändler hielt in der rechten Hand seinen Ladenschlüssel, in der linken das Pappschild und betrachtete es kopfschüttelnd. Er hatte Polidori nicht bemerkt.

          »Was machst du denn so lange?« sang jetzt aus dem hinteren Raum die Stimme des Mädchens. Der Buchhändler sah auf.

          »Was heißt hier >lange<?« rief er. »Ich bin doch viel zu früh. Ein Genever mit Potter, dem alten Langweiler, dann bin ich gegangen. Sonst war keiner da, bei dem verdammten Wetter. Aber kannst du mir verraten, warum du an einem Tag wie heute den Laden zumachst. Nässe bringt Kunden. Das weißt du doch.«

          Nachdenklich sah sich der Buchhändler in seinem Laden um, als könnte er irgendwo auf den Buchrücken oder in den wenigen Lücken zwischen den dunklen Bänden die Antwort finden, die er suchte. Hinter den Regalwänden war es sehr still geworden.

          »Sag mal, hast du wieder...?« begann er noch einmal. Da erblickte er Polidori.

          »Ah, Monsieur. Welche Überraschung! Sie noch einmal hier?« Eilfertig, mit geschäftsmännischem Lächeln kam er auf Polidori zu. »War etwas nicht in Ordnung mit dem kleinen Denon? Oder wollen Sie doch noch weitere Stücke für Ihre Sammlung aussuchen. Ich könnte Ihnen...«

          Er brach ab und betrachtete den Ladenschlüssel in seiner rechten Hand. Das Pappschild warf er vor sich auf die mit Leder bezogene Bank. Dann fuhr er mit der Linken in die Hosentasche, tauchte mit dem Schnupftuch wieder auf und walkte es zwischen den Fingern. Den Kopf hielt er gesenkt. Von Polidoris Schuhspitzen wanderte sein Blick zu der Öffnung zwischen den Regalwänden, in der nur das halbhohe Regal mit dem Silberlöffel darauf und den Scherben davor zu sehen war. Als er Polidori wieder ansah, war sein Miene vereist.

          »Das wird Sie teuer zu stehen kommen, Monsieur!« Dann fand er die Drohung, nach der er gesucht hatte: »Ich werde Sie anzeigen!«

          »Aber Monsieur, weshalb denn das?«

          »Meinen Sie, ich sähe nicht, was hier vorgefallen ist?«

          Während er sich mit dem Taschentuch über die Stirn wischte, warf er einen Blick auf die Bank und musterte dann Polidori, der in diesem Augenblick begann, an seinen Rockaufschlägen und seiner Weste zu zupfen.

          »Ich zeige Sie an!« wiederholte er. »Meine Tochter!«

          Ihr Kopf erschien in der Öffnung.

          »Nichts ist gewesen! Gar nichts«, rief sie.

          »Sei du ganz still!«

          »So laß doch den Herrn in Frieden, Vater! Wirklich, es ist überhaupt nichts gewesen.«

          »Darüber reden wir später.«

          Er wandte sich wieder Polidori zu.

          »Da kommen Sie aus Ihrem großartigen Britannien angereist, und lassen es sich fünfundvierzig Francs kosten, die Tochter eines ehrbaren Mannes zu verführen. Aber ich sagen Ihnen, so billig kommen Sie mir nicht davon! Ich zeige Sie an. So, wie Sie da vor mir stehen.«

          Polidori konnte nicht ermessen, wie derangiert er in diesem Moment noch aussah.

          »So glauben Sie mir doch, Monsieur, es ist nichts gewesen, gar nichts.«

          »Und die verschlossene Tür?« Er reckte den Ladenschlüssel hoch. »Ich lasse mich nicht zum Narren halten.«

          »Es ist nichts vorgefallen, was die Ehre Ihrer Tochter beeinträchtigen könnte.«

          »Erzählen Sie das der Polizei. Mit billigen Redensarten können Sie mir nicht kommen. Die Situation, in der ich Sie angetroffen habe, der Zustand Ihrer Kleidung, Ihr Platz neben dieser ... dieser Lotterbank. Das alles läßt an Eindeutigkeit kaum zu wünschen übrig. Ich kenne meine Tochter. Besser als Sie!«

          »Sie irren sich, Monsieur. Sie irren sich vollkommen. Ihre Tochter ist das zuvorkommendste ... ich meine, das zurückhaltendste Wesen, dem ich seit langem begegnet bin.«

          »Was heißt hier begegnet? ... Lassen Sie meine Tochter aus dem Spiel!«

          Polidori sah sich ratlos um.

          »Himmel, wie kann ich Ihnen nur... Denken Sie doch an all die Bücher, all die Geschichten und Episoden, die Sie selbst hier zum Verkauf anbieten. Welche Vielfalt von Situationen, die seltsamsten Verwicklungen kommen darin vor, und eindeutig sind die allerwenigsten. Welch reiche Quelle von Irrtümern und Mißverständnissen. Und wie in den Büchern, so ist es auch im Leben.«

          »Geschwätz! Ich lasse nicht zu, daß sich ein hergelaufener englischer Lüstling an meiner Tochter vergreift.«

          »Nehmen Sie das zurück, Monsieur! Zugegeben, die Situation war ein wenig delikat, nein, mißverständlich. Aber beleidigen lasse ich mich von Ihnen noch lange nicht.«

          »Delikat, ha! Und die delikaten Scherben da auf dem Boden, was ist das?«

          »Ich stieß an das Glas, und es fiel zu Boden. Ich bitte um Verzeihung. Ich bin bereit, Ihnen den Schaden zu ersetzen.«

          »Wie bitte? Sie haben ihre schmutzigen Füße auch in das Hinterzimmer gesetzt? Was hatten Sie dort verloren? frage ich Sie. Meiner Tochter sind Sie nachgestiegen, Sie Unhold!«

          »Ich bin bereit, Ihnen den Schaden zu ersetzen.«

          »Welchen Schaden? Wovon reden Sie eigentlich?«

          »Von dem Glas, Sir.«

          »Unsinn! Der Schaden, den Sie angerichtet haben, läßt sich nicht ersetzen. Aber büßen werden Sie ihn. Ich zeige Sie an!«

          »Und wenn ich es mir nicht nehmen ließe, ihn zu ersetzen?«

          »Meine Ehre? Die Ehre meiner Tochter? Wie wollen Sie das anstellen?«

          »Könnte ich Sie, Monsieur, dazu bewegen, auf Ihre Klage zu verzichten, wenn ich, sagen wir, einen weiteren, größeren Kauf tätigte?«

          Der Buchhändler stutzte.

          »Wollen Sie mich bestechen?«

          »Von Bestechung kann keine Rede sein. Ich mache Ihnen nur einen Vorschlag, wie wir uns einigen könnten. Überlegen Sie doch! Was hätten Sie ... was hätten wir von einer Klage? Sie eine peinliche Beweislast und ich jede Menge Scherereien. Ich bin Arzt, und --«

          »Was? Arzt sind Sie? Sie sollten sich schämen!«

          »So hören Sie doch. Wahrscheinlich würde Ihre Anzeige ohnehin erfolglos bleiben. Die Behörden hier können es sich nicht erlauben, durchreisende Touristen auf einen bloßen Verdacht hin festzunehmen. Ich bin unterwegs als Begleiter und, wie gesagt, als Arzt eines namhaften Engländers. Für diesen Herrn, meinen Gefährten, wäre ein Aufenthalt wegen einer solchen ... Angelegenheit eine arge Zumutung. Ich weiß nicht, wie er ... Morgen mittag reisen wir ab.«

          »Geschwätz! Ausreden, lauter Ausreden! Von Zumutung müssen gerade Sie reden! Wie heißt er denn, Ihr namhafter Engländer? Na?«

          »Das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich darf nicht. Aber ich vermute, daß sein Ruf auch bis in diese Räume gedrungen ist. Darf ich nun auf meinen Vorschlag zurückkommen? Ich kaufe Ihnen noch etwas Größeres für meine Sammlung ab, und Sie verzichten auf Ihre Anzeige. Eine klare Sache, nichts Ungehöriges.«

          »Aber --«

          »Monsieur, Sie sprachen vorhin von einem umfangreichen und recht kostspieligen russischen Werk. Wie steht es denn damit? Dürfte ich es einmal sehen?«

          Der Buchhändler sah ihn verblüfft an und sagte nach einer kurzen Pause: »Einen Moment bitte.«

          Er machte kehrt und trat an die hintere Regalwand. Da fiel sein Blick auf Polidoris Mantel.

          »Ist das Ihr Mantel? Wie kommen Sie dazu, in meiner Buchhandlung Ihren Mantel auszuziehen, an einem so kühlen Tage wie heute? Noch ein Beweis! Sie sind ein Spitzbube, ein Sittenstrolch! Nichts da mit kyrillischen Obszönitäten! Es bleibt dabei -- ich zeige Sie an! So billig kommen Sie mir nicht davon!«

          »Wie hoch sollte der Preis für das russische Buch sein?«

          Der Buchhändler zögerte. Jedoch nicht lange.

          »Zweihundert Francs.«

          »Ich zahle dreihundert, wenn Sie versprechen, mir keine weiteren Unannehmlichkeiten zu machen.«

          Der Buchhändler warf ihm einen ärgerlichen Blick zu.

          »Warten Sie doch erst einmal ab! Sie haben es ja noch gar nicht gesehen. Außerdem ist es nicht ein Buch, es sind vier Bücher.«

          Einen nach dem anderen hob er vier schwere Bände von einem hochgelegenen Brett herunter und türmte sie ächzend auf den Auslagentisch. Polidori trat heran, er schlug den Deckel des obersten Bandes auf und betrachtete die erste Seite. Typographisch war sie sehr ansprechend gestaltet, nur eben für ihn nicht lesbar.

          Der Buchhändler erklärte: »>Petersburger Sündennächte< soll der Titel übersetzt lauten. Falls es Sie interessiert. Das hat mir ein russischer Reisender gesagt, dem ich dieses Werk vor Jahren einmal gezeigt habe.«

          Polidori ließ die Seiten des ersten der vier Bücher unter dem Daumen seiner linken Hand ablaufen. Es war zweispaltig in ziemlich kleiner Schrift gesetzt. Illustrationen enthielt es anscheinend nicht. Die Seitenzahlen waren das einzige, was er lesen konnte. Sie gingen bis über neunhundert.

          »Ich nehme es. Unter der genannten Bedingung.«

          Der Buchhändler seufzte.

          »Also gut. Damit wir zu einem Ende kommen. Ich packe Ihnen die Bücher ein. Wären Sie so freundlich, mir beim Tragen zu helfen?«

          Polidori nahm zwei Bände, der Buchhändler die anderen beiden. Auf einem kleinen Tisch neben der Ladentür schnürte er, während Polidori den Mantel überstreifte und sich nach seinem Regenschirm umsah, zwei Pakete zusammen.

          »Eines wäre zu unhandlich«, sagte der Buchhändler, als ihm Polidori das Geld aushändigte. »Ich wünsche Ihnen jedenfalls viel Vergnügen mit Ihren neuen Erwerbungen.«

          Die Schnüre der Pakete schnitten Polidori in die Hände. Den Schirm hatte er unter den Arm geklemmt. Da erschien in der Öffnung zwischen den Regalwänden das Mädchen. Aus ernsten Augen sah sie zu ihm hinüber.

          »Ach bitte«, sagte Polidori an dem Buchhändler vorbei quer durch den Raum, »beantworten Sie mir noch eine Frage: Wie heißen Sie?«

          »Geneviève.«
          »Halt den Mund!« fuhr der Vater sie wütend an und öffnete die Ladentür, um Polidori hinauszulassen.
          Unerschrocken blickte das Mädchen in Polidoris Richtung und fuhr mit klarer Stimme fort: »Darf auch ich Sie noch etwas fragen?«
          »Gern«, erwiderte Polidori.
          »Wer ist der namhafte Engländer, mit dem Sie reisen?«
          Polidori schluckte.
          »Lord Byron«, antwortete er schließlich.
          Der Buchhändler und seine Tochter machten große Augen. Polidori vergaß zu grüßen, als er mit den beiden schweren Paketen auf die Straße trat.
           
          Zu den versammelten Werken
           

          Reinhard Kaiser, Der kalte Sommer des Doktor Polidori. (c) Reinhard Kaiser 1991-2012 - In die Polidori-Mappe gehören  auch der Versuch  Schirmestücke ,  die Erzählung  Der Wächter des Generals und vor allem die Reportage Gespenstersommer. Über das Wetter und Literatur im kalten Jahr 1816.