:::::::: Versammelte Werke ::::::::
Reinhard Kaisers Elektroarchiv

Warum der Schnee weiß ist.
Märchenhafte Welterklärungen.
Gesammelt und mit einem Essay von
Reinhard Kaiser und Elena Balzamo
Frankfurt am Main: Eichborn 2005.
Die Andere Bibliothek, Bd. 246.
304 Seiten. Originalausgabe. € 28,50
ISBN 978-3-8218-4558-6
Erfolgsausgabe  - € 24,90
ISBN 978-3-8218-4743-6
 
 
 
 
 

... 225 Erklärungsgeschichten aus beinah dreißig europäischen Ländern - ein Märchenbuch zum Nachschlagen, ein kleines Kompendium der populären Wißbegierde und des anonymen Einfallsreichtums...
 

Wie die Sterne an den Himmel kamen
Als unser Herrgott älter wurde und einen Stock brauchte, schlug er, um nicht beim Gehen mit ihm auszugleiten, in dessen Ende einen Nagel. Wenn er nun umherwanderte und sich auf seinen Stock stützte, stieß er jedesmal kleine Löcher in den Boden unter seinen Füßen, durch die ein wenig Licht nach unten fiel. Diese Löcher nennen wir Sterne. (Ångermanland, Schweden)
 

Ursprung der Sternschnuppen
Die Riesinen haben ihr schönes Haar mit Roßgerippen gekämmt. - Eine schöne Riesin, die einen himmelhohen Stuhl hatte, strählte ihr blondes Seidenhaar mit der Sichel des Mondes: die Stäubchen, welche vom Haare fielen, flimmerten in der Luft: es sind die Sternschneutzen. (Oberpfalz)
 

Gott erschafft die Menschen beim dritten Versuch
Der Herr erschuf anfangs sehr hohe und starke Menschen, wie die Zidove. Wenn diese fielen, so brachen sie sich die Stirne ein und konnten nicht mehr aufstehen, und wo sie hinfielen, da blieben sie liegen; sie konnten sich nicht vermehren. Als der Herr sah, daß er kein gutes Werk geschaffen, so ließ er die Zidove zugrunde gehen. Dann erschuf er eine andere Art von Menschen, sie waren fußhoch, mit faustgroßem Barte. Wenn diese Menschen ihrer Arbeit nachgingen, so krochen sie auf die Sträucher, um ihre Ochsen zu suchen. Also auch diese Menschenart war nicht geeignet; selbst die Ameisen und Bienen waren für sie gefährlich, Nester bauend auf ihren Köpfen. Gott bereute auch dies sein Werk und ließ auch diese Menschen aussterben. Dann erschuf er die Menschen von mittlerer Größe. Gott erkannte, daß die Menschen muskulöser sein müssen; um sie also zu machen, so verfertigte er sie aus Kot und stellte sie in den Schatten, damit sie der Wind trockne; dann stellte er sie in die Sonne, damit sie trocknen. Zu dieser Zeit kam der Teufel dahin, damit er Gottes schönes Werk verderbe, und zum Schaden der Schöpfung Gottes durchlöcherte er mit seinem Stocke den Körper des Menschen und verkrüppelte ihn an mehreren Stellen. Als der Herr kam und sah, was der Teufel getan, und den menschlichen Körper umgeformt habe, da dachte er, daß er wenigstens das Gesicht rette, und pflückte Gras, stopfte die Löcher zu, dann schmierte er ihn noch einmal mit Kot ein, und so wurde der Mensch wieder ganz. Aus den Gräsern, mit denen Gott den menschlichen Körper zugestopft hatte, entstanden die Heilkräuter. (Bulgarien)
 

Warum die Haare dort wachsen, wo sie es tun
Als der Herr die ersten Menschen geschaffen hatte, gab er jedem einen Pinsel, damit sie sich dort bemalten, wo sie Haare haben wollten. Der Mann überlegte nicht lange und bemalte sich überall ein bißchen, die Frau aber war schon eine Frau und ging mit Vorsicht zu Werke. Sie hatte sich eben erst das Kopfhaar und die Augenbrauen gemalt, als Luzifer kam und die beiden erblickte. Da er immer Böses im Schilde führte, zauberte er Bremsen herbei, die die beiden überall stachen und bissen. Die Frau schlug die Hände vor ihr Kostbarstes und ließ sie dort, während der Mann nach den Bremsen schlug, sobald sie sich irgendwo auf ihm niederließen. Sie hatten aber noch beide ihre Pinsel in der Hand und beklecksten sich damit. So kommt es, daß die Frau Haar an einer Stelle hat, wo keines sein sollte, und der Mann fast überall. Und weil die Frau keine Zeit hatte, sich einen Bart zu malen, blieb sie ohne. (Ångermanland, Schweden)
 

Ursprung der Sachsen und der Deutschen
Nach einer alten Volkssage sind die Sachsen mit Aschanes (Askanius), ihrem ersten König, aus den Harzfelsen mitten im grünen Wald bei einem süßen Springbrünnlein herausgewachsen. Unter den Handwerkern hat sich noch heuzutage der Reim erhalten:

Darauf so bin ich gegangen nach Sachsen,
wo die schönen Mägdlein auf den Bäumen wachsen;
hätt ich daran gedacht,
so hätt ich mir eins davon mitgebracht.
Und Aventin leitet schon merkwürdig den Namen der Germanen von germinare, auswachsen, ab, weil die Deutschen auf den Bäumen gewachsen sein sollen. (Deutschland)
 

Wie der Herr die Westfalen schuf
Daß die Westfalen unsern Herrn Jesum Christum gekreuzigt hätten, dessen werden sie mit Unrecht beschuldigt, denn sie waren damals kaum erst erschaffen. Mit dieser Schöpfung ging es aber so zu: Als unser Herr mit seinen Jüngern noch auf Erden wandelte, da kam er einst in das Land der roten Erde, das damals noch nicht von Menschen bevölkert war, denn seine derzeitigen Einwohner liefen auf allen Vieren und grunzten. »Es ist ein wüstes Land«, sagte St. Peter, »das muß wahr sein; aber in dem stinkenden Nebel dieser Heiden könnten doch vielleicht Menschen leben: der Mensch ist gar ein zähes Geschöpf; was läßt er sich nicht alles gefallen! Und schade wäre es doch um die Schinken dieser Borstentiere, wenn sie niemand in den Rauch hinge!« Der Herr aber meinte, viel Gescheites könne doch aus dem Menschengeschlecht nicht werden, das hier sein Leben zu fristen bestimmt wäre; besser bliebe es also unerschaffen. St. Peter ließ indes zu bitten nicht nach, der Herr solle es doch nur einmal damit versuchen: »Batt es nicht, so schadt es nicht«, meinte er, und es müsse auch solche Käuze geben; der Herr habe doch Ratten und Mäuse und anderes Ungeziefer erschaffen, warum nicht auch Westfalen? Endlich ließ sich der Heiland erweichen und sagte: »Dir zuliebe will ich es denn tun, du wirst aber sehen, was unser Dank sein wird.« Darauf stieß er mit den Füßen nach etwas, das im Wege lag und einem der Ureinwohner des Landes entfallen war, und sprach: »Werd ein Westfale!« Und alsbald stand da ein ungeschlachter Gesell, der auch gleich die Arme in die Seite stemmte und unsern Herrn Jesum anfuhr: »Na, wat stött he mik.« Da sagte der Heiland: »Siehst du nun, St. Peter, was unser Dank ist?« (Deutschland)
 

Warum man von Erdbeeren nicht satt wird
Einst ging ein neidischer, habgieriger Knabe in den Wald, um Erdbeeren zu suchen, und hatte schon ein hübsches Körbchen fast voll. Da begegnete ihm die Mutter Gottes und fragte in ihrer liebreichen Art: »Was hast du in deinem Körbchen?« Das Kind sagte trotzig: »Nichts!« Denn es fürchtete, sie wolle von den Beeren haben. »Ei!« sprach die Mutter Gottes. »Ist es nichts, so wird es dir auch nichts nützen!« Und von da an wird keiner von Erdbeeren satt, er mag deren noch so viele essen. (Deutschland und Tirol)
 

Warum der Schnee weiß ist
Als Unser Herr alles erschaffen hatte, Gras und Kräuter und Blumen, und ihnen die schönen Farben gegeben, in denen sie prangen, machte er zuletzt auch den Schnee und sagte zu ihm: »Die Farbe kannst du dir selbst suchen, denn du frißt ja so alles.« - Der Schnee ging also zum Gras und sagte: »Gib mir deine grüne Farbe.« Er ging zur Rose und bat um ihr rotes Kleid, dann zum Veilchen, und wieder zur Sonnenblume, denn er war eitel und wollte einen schönen Rock haben. Aber Gras und Blumen lachten ihn aus und schickten ihn seines Weges. Da setzte er sich zum Schneeglöckchen und sagte betrübt: »Wenn mir niemand eine Farbe gibt, so ergeht es mir wie dem Winde, der nur darum so bös ist, weil man ihn nicht sieht.« Da erbarmte sich das Blümchen und sprach bescheiden: »Wenn dir mein schlechtes Mäntelchen gefällt, magst du es nehmen.« Und der Schnee nahm es und ist seitdem weiß; aber allen Blumen bleibt er feind, nur nicht dem Schneeglöckchen. (Oberpfalz)

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Aus dem Nachwort: ...Der Reiz dieser Geschichten, die in den vorhandenen Märchensammlungen eher stiefmütterlich behandelt werden, liegt vielleicht darin, daß sie uns etwas über unser eigenes, vermeintlich genuin modernes Verlangen nach Erklärungen und Aufklärungen und über unsere eigene Neugier sagen. Indem wir uns an ihrer Beobachtungsgabe, ihrem Witz und ihrer Weisheit erfreuen, erkennen wir, daß sich unsere von den Wissenschaften geprägte Mentalität in Graden, aber nicht grundsätzlich von der intellektuellen Grundausstattung jener anonymen Erzähler unterscheidet, die diese Geschichten hervorgebracht haben. Es wäre falsch zu behaupten, ihre märchenhaften Welterklärungen seien eine Vorstufe zu unserer Wissenschaft. Aber die Neugier, die Lust und die Kunst, Fragen zu stellen, die Fähigkeit zum Staunen, das Verlangen nach Orientierung und Wissen, das fabulierende Vergnügen am Finden und Erfinden sinnreicher Erklärungen und schließlich auch die Lust am Begreifen, von der diese Geschichten zeugen, sind nicht grundverschieden von unserer eigenen Wißbegierde, sondern bilden deren Kern und innersten Antrieb.

Zu den versammelten Werken



Reinhard Kaiser, Elena Balzamo: Warum der Schnee weiß ist. Märchenhafte Welterklärungen. (c) 2005 Eichborn AG, Frankfurt am Main.