:::::::  Reinhard Kaisers Elektroarchiv  :::::::::::::::::::::

 
 
Unbegreifliches Labyrinth des Menschenherzens!
Einige Passagen aus Rétifs »Monsieur Nicolas«

 

O Chaos, das alle Gegensätze in sich schließt,
wer findet sich je in dir zurecht? Ich - in mir selbst! Und ich werde nichts verschleiern, mein Leser, weder die Laster noch die Verbrechen, noch die Schandtaten, noch die Obszönitäten! Ja, alles werde ich gestehen, bis hin zu den heimlichen Gründen, die mich veranlassen, meine Geschichte aufzuschreiben. Dieses Verdienst zumindest möchte ich haben - Staunen zu erregen durch ein Übermaß an Aufrichtigkeit! Ach, mein Leserfreund (denn Sie werden mich lieben, wenn Sie mich lesen - und vielleicht werden Sie mich sogar schätzen, trotz meiner Fehler), gedulden Sie sich! Lassen Sie mir Gerechtigkeit widerfahren und urteilen Sie über mich erst, wenn Sie das Ganze gelesen haben. Ich übergebe Ihnen hier ein Buch der Naturgeschichte, das mich über Buffon stellt; ein philosophisches Werk, das mir einen Platz neben Rousseau und Voltaire und neben Montesquieu verschafft. Ich werde Ihnen das Leben eines natürlichen Menschen erzählen, der nur eines fürchtet - die Lüge. Ich hinterlasse dieses Muster den künftigen Geschlechtern. Es nachzuahmen ist nicht leicht! Zwanzigmal bin ich daran verzagt. (Einleitung)  
 
Die erste Begebenheit aus meiner Kindheit,
die mir in Erinnerung geblieben ist, führt an das Ende meines zweiten Lebensjahres zurück. Ich war ungeduldig, weil man mich nackt und ungewickelt liegengelassen hatte, und ließ meinen Zorn schließlich an dem Toilettenspiegel aus, in dem meine Schwester Margot mir mein verzerrtes Gesicht zeigte: Mit dem Griff eines Tafelmessers zertrümmerte ich ihn. Die Sprünge im Glas machten mich noch hässlicher, aber in den Scherben vervielfachten sich die Dinge. Ich glaubte, eine Welt hinter dem Spiegel zu sehen! Dieser Anblick unterbrach den Fluss meiner Tränen, und ich erlebte mein erstes Erstaunen, meine erste Verwunderung, meine erste Spiegelung. Ich wurde nicht bestraft; meine Mutter begnügte sich damit, ihren erst kürzlich gekauften Toilettenspiegel zu beweinen. (Erste Epoche, Sacy, Burgund, 1736)  

 

Es war das schrecklichste Schauspiel, das ich in meinem Leben gesehen habe.

Aus hundertneunundvierzig Häusern, die mit der eingelagerten Ernte verbrannten, stiegen Massen von Rauch auf, die die Sonne verdunkelten. Man konnte sehen, wie die Häuser auf einer Straßenseite, wo es nicht brannte, ohne Kontakt, durch die bloße Hitze, zunächst nur hässlich qualmten, erst schwarz, dann rot, bis schließlich wütende Flammen aus ihnen hervorloderten. Die Einsamkeit war beängstigend - und diesen Schrecken steigerte noch der Anblick all der Tiere, die sich tagsüber sonst nie zeigen: Marder, Wiesel, Ratten, die aus den erhitzten Häusern hervorstoben und deren bevorstehendes Abbrennen anzukündigen schienen. In diesem alles erfassenden Grauen sah ich Jeannette und ihre Mutter, wie sie ihr Haus verließen. Die Mutter hatte ihr jüngstes Kind auf dem Arm. Der Vater und Jeannettes Bruder versuchten Akten und andere Habseligkeiten zu retten, die leicht zu transportieren waren. Ich sagte zu Melin: »Laufen Sie hin und sagen Sie ihnen, dass im Garten des Pfarrhauses keine Gefahr ist!« Weil ich selbst es nicht wagte, sie anzusprechen, schickte ich einen anderen vor. Aber wenn sie wirklich gekommen wären, hätte ich mich wieder nicht getraut, selbst dorthin zurückzukehren. (Dritte Epoche, Courgis, Burgund, 1749)
 
 

Ich gab ihr das Blatt mit meinen Versen.

Die Überschrift lautete: »Für Mademoiselle Madelon Baron. Akrostichon zum Festtag der Jungfrauen, auf die Melodie von, usw.« Beim Lesen wurde sie rot. Als sie fertig war, wollte sie es mir zurückgeben.
            »Aber es ist doch für Sie bestimmt!«
»Ach, wo bin ich bloß mit meinen Gedanken...!«
Sie faltete das Blatt und steckte es ein. Ich nahm ihre Hände. Ich umarmte sie. Sie wehrte sich kaum.
»Ich bete Sie an!«, sagte ich nach einem entzückten Kuss auf ihre Lippen.
»Das glaube ich nicht.«
»Ich bete Sie an«, wiederholte ich nach zwei weiteren Küssen.
»Nein! Ich glaube Ihnen nicht!«
»Ich bete Sie an, ich liebe Sie mehr als mein Leben. In ein paar Tagen werden Sie es sehen...«
»Nein! (in charmantem Ton) Ich glaube Ihnen kein Wort!«
Jedesmal wenn sie ihren Unglauben beteuerte, pflückte ich mir einen Kuss von ihren Lippen. Zuletzt drückte ich sie an mich. Doch als sich ein Schleier von Wonne und Lust über ihre Augen legte, lief ich zur Ladentür und verriegelte den oberen Teil. Im Nu war ich zurück bei ihr und nahm sie wieder in meine Arme, drückte diesen ganzen schönen Körper mit aller Kraft.
»Ich bete Sie an!«, beteuerte ich noch einmal.
»Nein! Nein! Geschwätz! - Sie lieben mich nicht!«
Was für ein Sehnen in ihrer Stimme mitschwang! Ihr Mund wich dem meinen fast gar nicht mehr aus. Noch nie war Madelon so schön gewesen, und ihre Seufzer ließen ihr Mieder anschwellen. Ein tiefer Seufzer entwich meiner Brust. Madelon presste ihre Lippen auf meine. Wir blieben vereint, sprachen nicht, genossen einander. Von all den Reizen, den Umarmungen, dem herausfordernden Aufzug Madelons erregt, hatte das Verlangen seinen Gipfel erreicht... Wenn ich einige Augenblicke in der Reglosigkeit der Extase zu verharren schien, so deshalb, weil mir mein Glück groß genug war; nach mehr verlangte es mich nicht. Aber dieser Zustand kann nicht andauern. Das Glück ist wie der Blitz - ist ein Wunsch erfüllt, so folgt ihm ein anderer, um nur einen Augenblick grell aufzuleuchten. Seit mehreren Tagen hatte sich meine Vorstellungskraft immer nur mit Madelon beschäftigt. Diese Schönheit hatte sich ihr lebhaft eingeprägt - mit all den Reizen, von denen auch meine neuen Verse handelten. Mit zärtlicher Heftigkeit an meine Brust sich drückend, sagte sie mit ersterbender Stimme: »Lassen Sie von mir ab, wenn Sie ein Verführer sind.«
»Dein Liebhaber schwört dir ewige Liebe!«, rief ich ganz außer mir. »Erfüll mir meine Wünsche, du herrliches Mädchen, und fürchte nichts! Im Triumph werde ich dein Sklave für immer!«
Madelon seufzte. Sie erwiderte einen Kuss, und ihre Gegenwehr bestand nur noch aus Gesten einer verlöschenden Schamhaftigkeit. Ich war so glücklich!
Die Vesper bei den Franziskanern dauerte nur eine Dreiviertelstunde. Bald würden die anderen Hausbewohner zurückkehren. Doch in dieser kurzen Zeit geschah es, dass Madelon bis terna venere fuit locupletata.* Ich konnte nicht von ihr lassen. Aber die Mädchen sind bei solchen Gelegenheiten mehr auf ihren Ruf als auf ihre Tugend bedacht und deshalb besonders wachsam. Der große Uhrturm lässt vor jeder vollen Stunde zwölf leise Schläge ertönen. Madelon entzog sich mir, sowie sie die hörte, und als der schwere Klöppel viermal die große Glocke geschlagen hatte, war sie schon in ihrem Zimmer. Noch verliebter als vorher blieb ich zurück. (Vierte Epoche, Auxerre, 1753)
 
* In Liebe zweimal dreifach befriedigt.
 
 

Ausflug in den Bois de Boulogne

Wir liefen wieder davon, meine beiden Freundinnen und ich, und als wir außer Sicht waren, tollten wir herum und gaben allerlei Albernheiten von uns. Unter denen, die sie mir sagten, ließ mich vor allem eine aufhorchen. Mademoiselle Baptiste hatte eine Strophe aus einem damals sehr bekannten Lied gesungen:

 

                        Y écoutez l'aventure

                        D'un pauvre villageois:

                        Moi qui de ma nature

                        Suis honnête et courtois,

                        L'autre jour je promis

                        A la belle Claudène

                        De la servir gratis

                        Le long de la semaine.

                        Le lundi pour lui plaire

                        Je pris la bêche en main;

                        La matinée entière,

                        Je bêchais son jardin...

 

Hört hier, was einem armen Dörfler widerfuhr,

mir, der ich ehrbar bin und höflich von Natur.

Neulich versprach ich Claudène, der schönen Freundin mein,

ich würde ihr die ganze Woche gern zu Diensten sein.

Am Montag, um ihr zu gefallen, nahm ich den Spaten in die Hand

und stocherte den ganzen Morgen in ihrem Gartenland.

 

Ich sagte, ich hätte große Lust, in ihrer beider Gärten zu stochern, worauf Mademoiselle Baptiste mich fragte, wievielmal ich ihnen denn wohl nach dem Mittagessen zu Diensten sein könnte. Ich hielt jeder von ihnen die fünf Finger einer gespreizten Hand entgegen. Sie lachten mich aus.

»Soll ich es Ihnen beweisen?«, rief ich.

»Er hat recht!«, sagte die junge Mademoiselle Prudhomme. »Beweis der Werke ist stärker als Beweis der Worte.« (Fünfte Epoche, Paris, 1757)

 
 
Ich weiß kaum noch, was das ist - Verlangen!
Und doch muss ich sagen, dass ich im Jahr IV, um die Mitte des Fructidor, eine Frau von zweiunddreißig Jahren beim Verlassen eines Ladens in der Rue de Thionville sah, die ich einfach bewundern musste. Sie ging vor mir her, raffte ihr Kleid und ließ mich Beine sehen, die vollkommen waren. Ich sprach sie an: »So lassen Sie doch Ihren Rock sinken!«
           Das Fräulein lächelte.
»Also wirklich!«, sagte ich. »Macht es Ihnen denn gar nichts aus, alle Welt völlig zu verwirren - sogar die armen alten Männer!?«
»Oh! Ich kenne Sie«, antwortete sie. »Und Sie kennen mich! Madame Hollier ist meine Maman.«
»Madame Hollier? Von der Place Dauphine?«
»Genau die.«
»Ich freue mich, Mademoiselle. Wie sich das trifft!«
»Ich freue mich auch. Sie sind sehr freundlich.«
»Sie sind die zweite oder dritte von meinen Töchtern, die ich an den Beinen erkenne.«
»Ganz recht - dass sie schön sind, bekomme ich öfter zu hören.«
»Bewundernswert!« - Sie brach in Lachen aus.
»Das haben meinen beiden Schwestern auch gesagt - meine Zwillingsschwester und Virginie!«
»Wie heißt denn Ihre Zwillingsschwester?«
In diesem Moment kam ein Kabriolett über den Pont Neuf gefahren - leichtfüßig wie der Wind folgt ihm die Hollier, überholt es und darf einsteigen, winkt mir zu und schwebt davon... Bis heute habe ich sie noch nicht wiedergesehen. (Neunte Epoche, Paris, Ende August, Anfang September 1796)
 
 
Was sind das bloß für Zeiten und was für Männer,
denen gegenüber man es sich schon als Verdienst anrechnen kann und anrechnen muss, wenn man den Frauen einfach nur menschlich begegnet - von Zärtlichkeit gar nicht zu reden? (Neunte Epoche, Paris, 1797)
 
 

Zurück zum Buch  -  Zurück zu den Versammelten Werken