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Olaus Magnus: Wunder des Nordens - Der Anfang

Glücklicher Zufall

Im September des Jahres 1886 erschien in Christiania, dem heutigen Oslo, im Rahmen der Mitteilungen einer dort ansässigen »Gesellschaft der Wissenschaften« eine schmale Druckschrift, in Deutsch verfaßt von einem Gelehrten aus München, Oscar Brenner. Weder der Name des Autors noch das Organ, in dem er seine Arbeit publizierte, noch auch der Titel des kleinen Werkes waren dazu angetan, beim großen Publikum Aufsehen zu erregen. Doch für die interessierte Fachwelt war diese Veröffentlichung - und zwar angefangen bei ihrem Titel - eine Sensation: »Die ächte Karte des Olaus Magnus vom Jahre 1539 nach dem Exemplar der Münchener Staatsbibliothek«.

Der Name Olaus Magnus war in Norwegen und den anderen skandinavischen Ländern allen geläufig, die sich mit der Geschichte und der Kartographie ihrer Heimat beschäftigten. Auch seine voluminöse »Beschreibung der Völker des Nordens«, die Historia de gentibus septentrionalibus, war ihnen bekannt, obwohl dieses Werk damals, mehr als dreihundert Jahre nach seinem ersten Erscheinen, noch immer nicht ins Schwedische oder eine andere skandinavische Sprache übersetzt war. Aber die große Karte, die dieser Olaus Magnus schon vor seinem dicken Buch angefertigt und gedruckt haben sollte, kannte niemand. Sie war im Laufe der Jahrhunderte zum Gerücht verblaßt. Keiner wußte, wie sie ausgesehen hatte. So blieb reichlich Raum für Spekulationen, und mehrere alte Karten Skandinaviens galten als mögliche Kandidaten. Doch Gewißheit und Einigkeit darüber, welche von ihnen die echte sei, wurde nicht erzielt. Manche bezweifelten sogar, daß die legendäre Karte des Olaus Magnus je existiert habe.

»Seit dem Jahre 1574, in welchem Jos[ias] Simler die Bibliotheca Gesneri neu herausgab«, so beginnt Oscar Brenner seine Mitteilung, »ist keine authentische Nachricht über die grosse Karte des schwedischen Erzbischofes Olaus Magnus (+ 1557) in die Öffentlichkeit gedrungen. Simler hat die Karte, die er amplissima [überaus reichhaltig] nennt und kurz beschreibt, wohl noch selbst gesehen. Alle neueren Bibliographen wissen von ihr nur aus zweiter Hand zu berichten...«

Deshalb war das Aufsehen bei den Kennern der Materie groß, als Oscar Brenner nun mitteilte: »Die alte Karte tritt jetzt zum ersten Mal wieder an das Tageslicht. Ich entdeckte sie im März dieses Jahres unter den Karten der hiesigen Hof- und Staatsbibliothek. Sie ist unter den Karten des skandinavischen Nordens mit der Signatur Mappae VII,1 eingereiht.«

Brenner befaßt sich in seiner Mitteilung vor allem mit den lateinischen Erläuterungen zu den zahlreichen Einzelszenen, die sich auf der Carta marina finden, und stellt am Ende bescheiden fest: »Meine Aufgabe war, das von mir aufgefundene verwaiste und verstossene Kind wieder in die Welt einzuführen und in sein Recht einzusetzen. ... Mögen Berufenere sich des Ankömmlings annehmen.« Die Auffindung selbst nennt er einen »glücklichen Zufall«. Aber über dessen nähere Umstände äußert er sich nicht - vielleicht deshalb, weil es darüber nichts weiter zu berichten gab, weil die eigentliche Pointe dieser Wiederentdeckung darin bestand, daß es keine Pointe gab. Schließlich hatte er die seit dreihundert Jahren verschollene Karte genau dort gefunden, wo man sie, sofern denn überhaupt je ein Exemplar nach Bayern gelangt war, wohl am ehesten vermuten konnte und wo auch ein anderer sie wahrscheinlich hätte finden können, wenn er denn nach ihr gesucht hätte: in der Kartenabteilung der Münchener Hof- und Staatsbibliothek unter den Karten des skandinavischen Nordens. 

Seitdem die große Karte des Olaus Magnus wieder an das Tageslicht getreten ist, haben diejenigen, die sie zu Gesicht bekamen, nicht aufgehört zu staunen - über ihre Schönheit, ihre Genauigkeit, ihren Reichtum an belebten Details und über die Originalität dessen, der die Holzschneider bei der Anfertigung der Druckplatten mit Ideen und Vorschlägen, mit anschaulichen Beschreibungen und wahrscheinlich auch mit Skizzen inspirierte. Zum ersten Mal in der Geschichte der Kartographie gewinnt Nordeuropa auf der Carta marina weitgehend korrekte Umrisse und wird erkennbar. Aber um eine »Seekarte« handelt es sich nur dem verkürzten Namen nach, der sich eingebürgert hat. Auf ihr sind alle Länder dargestellt, die an Nordsee und Ostsee grenzen: im Zentrum die skandinavischen Länder und die Inseln des Nordatlantik, vor allem Island, an den Rändern Schottland, England, Holland, Deutschland, Polen, die baltischen Staaten und Rußland. Mit den geographischen Realitäten vermischen sich die Phantasiegebilde: die Insel Thule, der Malstrom vor der Küste Norwegens, die Seeungeheuer und Meerschlangen. Fabelwesen und Naturwunder, Alltagsszenen aus der Gegenwart und Gestalten aus der frühen Geschichte Skandinaviens - all das macht die Karte des Olaus Magnus zu einer ungeheuer ergiebigen Quelle von Auskünften über den damals noch kaum erschlossenen und zumal im übrigen Europa so gut wie unbekannten hohen Norden.

Die Karte, die in ihren Bildern von so vielen Wundern Kunde gibt, ist selbst ein Wunderwerk der Holzschnittkunst. Sie wurde von neun Platten auf neun jeweils 56 cm x 42 cm große Papierbogen gedruckt, die jeder in der Mitte mit großen lateinischen Buchstaben von A bis I bezeichnet sind und nachher paßgenau aneinandergeklebt wurden. Alles in allem ist sie etwa 1,25 m x 1,70 m groß. Ausführlicher als die lateinischen Erklärungen in der linken unteren Ecke erläutert ein getrennt gedruckter Kommentar, der zusammen mit der Karte sowohl in Italienisch als auch in Deutsch erschienen ist, die Fülle der dargestellten Einzelheiten.

Eine Karte dieser Größe hatte über die Jahrzehnte und Jahrhunderte geringe Überlebenschancen, und achtzig Jahre lang nahm man an, das in München entdeckte Exemplar sei das einzige, das sich erhalten habe. Bedenkt man das Alter der Karte und die Brüchigkeit der dünnen Papierbögen, aus denen sie sich zusammensetzt, kann man die Münchner Karte als durchaus gut erhalten bezeichnen. Es fehlen keine Teile der Zeichnung, und große Risse sind nicht erkennbar. Über die »Biographie« dieses Exemplars ist wenig bekannt. Anscheinend ist es ziemlich früh nach Bayern gelangt. In einem Verzeichnis von 1577 wird es bereits erwähnt - zusammen mit vierzig anderen Karten, die zur Bibliothek des Herzogs von Bayern gehörten. Irgendein Unglück, über dessen nähere Umstände wir nichts wissen, muß dieser Kollektion widerfahren sein, denn sämtliche im Katalog aufgeführten Karten sind verschwunden, ausgenommen jene mit der Nummer 15, die Carta marina. Ihr weiteres Überleben haben wir möglicherweise der jahrhundertelangen Vergessenheit zu verdanken, aus der erst Oscar Brenner sie wieder hervorholte.

Nach dem Bericht über ihre Restaurierung im Jahre 1950 wies die Karte vor dem Beginn der Arbeiten allerdings nicht weniger als 450 Risse und Löcher auf, die geflickt werden mußten - das am meisten beschädigte Blatt C insgesamt 120, das am besten erhaltene Blatt B »nur« 15. Bevor diese Reparaturen ausgeführt werden konnten, mußte die auf Landkarten-Schirting aufgezogene, oben und unten mit dünnen Stäben versehene Kartenrolle zerlegt werden. Die neun Blätter wurden von ihrer Stoffunterlage abgelöst. Nach ihrer Wiederherstellung wurden sie nicht wieder zusammengefügt und nicht mehr gerollt, sondern flach auf einzelne Kartons montiert. Auf der Cassette, in der die Kartons samt dem Restaurierungsbericht heute aufbewahrt werden, ist vermerkt, wie sie zu lagern seien: »Plano im Bunker«.

Um das Jahr 1960 versuchte die Königliche Bibliothek in Stockholm vergeblich, die Bayerische Staatsbibliothek für einen Tausch zu interessieren, der die Münchener Karte nach Schweden und dafür eine wertvolle, aus Bayern stammende mittelalterliche Handschrift von Stockholm nach München gebracht hätte. Aber wenig später tauchte in der Schweiz ein zweites Exemplar der echten Carta marina auf, das im November 1962 von der Universitätsbibliothek Uppsala erworben werden konnte. Es war sogar besser erhalten als das Münchener Exemplar und ist heute neben der »Silberbibel« des Bischofs Wulfila eines der Glanzstücke in der Dauerausstellung. Einzelheiten über diese Transaktion wurden erst vor wenigen Jahren bekannt, nach Ablauf einer Frist von vierzig Jahren, die sich der Vorbesitzer, ein polnischer Sammler, ausbedungen hatte. Graf Emeryk Hutten-Czapski wollte im Zusammenhang mit dem Verkauf der Karte nicht öffentlich genannt werden. Vor dem Zweiten Weltkrieg hatte er in seiner Heimat verschiedene öffentliche Ämter bekleidet und war nach dem Krieg ins Exil gegangen. Der Preis, auf den er sich mit der Bibliothek in Uppsala schließlich einigte, betrug 150 000 schwedische Kronen, nach heutigem Wert mehr als 130 000 Euro. Der Graf brauchte damals dringend Geld und entschloß sich, das wertvollste Stück aus seiner Sammlung zu verkaufen. Alles andere schenkte er später dem Nationalmuseum in Krakau. Hutten-Czapski starb 1979. Wann und wie die zweite echte Carta marina in seinen Besitz gelangt ist, hat er nicht preisgegeben.

Wie viele Exemplare von der Karte ursprünglich hergestellt wurden, ist nicht bekannt. Aber aus einer geringen Zahl erhaltener Exemplare auf eine kleine Auflage, etwa von einigen Dutzend, zu schließen, wie dies oft geschah, ist problematisch. Im Jahre 1507, drei Jahrzehnte vor der Carta marina, wurde in Lothringen die Weltkarte von Martin Waldseemüller gedruckt. Sie ist noch größer als die Karte des Olaus Magnus und im gleichen Verfahren wie diese hergestellt - zusammengesetzt aus zwölf Holzschnittblättern. Und zu besonderer Berühmtheit gelangte sie, weil sie die kurz zuvor entdeckte Neue Welt zum ersten Mal mit dem Namen »America« bezeichnet. Ihre Auflagenhöhe kennt man - tausend Exemplare, von denen sich bis heute ein einziges erhalten hat.

»Meerkarte und Beschreibung der Länder des Nordens sowie der in ihnen anzutreffenden Wunderdinge, auf das sorgfältigste ausgearbeitet im Jahr des Herrn 1539« - so lautet der vollständige Titel der Carta marina, der sich über die ganze Breite ihres Oberrandes zieht. Doch neben der Jahreszahl 1539, in der rechten oberen Ecke von Blatt C, folgt weniger auffällig noch ein überraschender Zusatz: »Veneciis liberalitate R[everendissim]i D[omini] Ieronimi Qvirini patriarche Venetiani - zu Venedig, mit großzügiger Unterstützung des hochehrwürdigen Hieronymus Querinus, Patriarch von Venedig.«

Aber wie kommt es, daß eine Karte des europäischen Nordens, angefertigt von einem Schweden, der seiner Heimat mit unermüdlicher Neugier und akribischer Aufmerksamkeit zugetan war, in Italien das Licht der Welt erblickt - von Schweden aus gesehen also im tiefen Süden - und daß sich ein venezianischer Kirchenfürst bereit findet, eine Arbeit zu unterstützen, die auf eine Veranschaulichung, wenn nicht gar Verherrlichung der - von Venedig aus gesehen - entlegensten, wüstesten, teils noch heidnischen Regionen Europas abzielt? Es wird Zeit, daß wir uns dem abenteuerlichen Lebensweg des Olaus Magnus und seinen Verwicklungen in die Konflikte und Umwälzungen seiner Epoche zuwenden...
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